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PresseEcho

11.07.2006
Frankfurter Rundschau

Nimm mich mit! - Eine Berliner Sonderschule macht vor, wie Kinder mit unterschiedlichen Begabungen und Schwächen voneinander profitieren - doch dem Projekt droht das Aus

Wenn Mivert gefragt wird, welche Schule sie besucht, druckst sie herum. Sie weiß, was die meisten Menschen über Sonderschüler denken. Sie schauen sie dann an, wie man jemanden ansieht, der ein bisschen balla-balla ist. Die zwölfjährige Libanesin sagt, es sei schon vorgekommen, dass sie andere Kinder "Spasti" genannt haben.

Dabei genießt ihre Schule in Fachkreisen einen ausgezeichneten Ruf. Mivert besucht die Prignitz-Schule im Berliner Stadtteil Schöneberg. Es ist keine gewöhnliche Sonderschule, lernbehinderte und nicht-lernbehinderte Grundschüler werden in einigen Klassen zusammen unterrichtet. Etwa jeder dritte der insgesamt 190 Schüler hat keinen "sonderpädagogischen Förderbedarf", wie es im Fachjargon heißt. Diese Kinder könnten auch eine Regelschule besuchen. Eines von ihnen ist Mivert.

Schüler wie sie sind die Stützen des Unterrichts. Wie wichtig ihr Beitrag ist, das beschreibt Miverts Lehrerin Sabine Krukenberg so: "Wenn die guten Schüler fehlen, schlaffen die anderen ab." Der Geräuschpegel steige an solchen Tagen deutlich an. Es mache eben einen Unterschied, ob Mitschüler Fragen stellten oder Lehrer Monologe hielten. Im ersten Fall passten die Kinder besser auf.

Schulwechsel

Mivert besucht die 6. Klasse, auf 16 Kinder kommen zwei Lehrerinnen, eine Grundschul- und eine Sonderpädagogin, Sabine Krukenberg teilt sich die Arbeit mit ihrer Kollegin Christa Mensel. Es ist eine der letzten Unterrichtstage vor den großen Sommerferien, die Zensuren stehen längst fest, dementsprechend turbulent geht es in der Klasse zu.

Die beiden Lehrerinnen sehen dem letzten Schultag nicht ohne Wehmut entgegen. Nach dem Sommer wechseln ihre Sechstklässler auf weiterführende Schulen. Von 16 Kindern kommen fünf aufs Gymnasium, vier an die Realschule, fünf auf eine Hauptschule - und ein einziger auf eine andere Sonderschule.

Die Lehrerinnen haben viel getan, um die Kinder auf den Ernst des Lebens vorzubereiten. Jeder zweite Schüler stammt aus einer zugewanderten Familie, viele Eltern sprechen kaum deutsch, sie haben andere Probleme, als den Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.

An einer regulären Schule hätten es diese Kinder schwer. In Klassen mit über 24 Schülern bleibt für die Lehrer kaum Zeit, sich um jeden Einzelnen zu kümmern. An der Prignitz-Schule ist das anders. Sabine Krukenberg sagt, sie sehe sich nicht nur als Lehrerin, auch als Erzieherin.

Die Aufgabe macht ihr Spaß, nach 30 Jahren an einer Hauptschule hat sie sich freiwillig an die kooperative Grund- und Sonderschule versetzen lassen. Die Klassen sind überschaubar, die Lehrerinnen kennen ihre Pappenheimer - manchmal besser, als denen lieb ist. Erst heute morgen haben sie Schüler persönlich von zu Hause abholen lassen, die sich nach dem gestrigen Klassenausflug ins Freibad krank gemeldet hatten - wegen Sonnenbrand. Dieses Mehr an persönlicher Zuwendung ermutigt auch Eltern nicht-lernbehinderter Schüler, ihre Kinder in die Obhut der Prignitzer zu geben. "An dieser Schule kann ich kann ich noch etwas bewegen", sagt Krukenberg.

Es ist ein eigener Lehrertypus, der an dieser Schule unterrichtet. Praktikerinnen wie Sabine Krukenberg, eine drahtige Frau mit kurzen Haaren, die abwinkt, wenn man sie fragt, wie groß der Mehraufwand ist, den es erfordert, für jeden Schüler einen individuellen Lehrplan zu entwerfen. "Ach, das ist halb so wild. Man entwickelt ein Feeling für die Schüler." Frauen wie Marianne Hoyer, die Neunt- und Zehntklässler in der Schüler-Wäscherei "Blütenweiß" mit einer Mischung aus mütterlicher Strenge und Herzenswärme in den Arbeitsalltag einführt. Nicht ohne Stolz präsentiert Anna (16) die Geschäftsbilanz: Am Ende des Schuljahres haben die Schülerinnen und Schüler ein Plus von 183 Euro erwirtschaftet. Marianne Hoyer sagt: "Das ist angewandte Mathematik."

Schülerfirmen, individuelle Lernpläne, jahrgangsübergreifender Unterricht - und Verträge zwischen Lehrern und Schülern, die dazu beitragen, dass die Kinder lernen, sich selber zu disziplinieren und in die Gemeinschaft einzufügen.

Dieses Konzept wirkt wie zurechtgeschnitten auf eine Klientel, von der Schulleiterin Annelie Belusa sagt, sie sei schon sehr schwierig. Sie weigere sich aber, allen Schülern den Stempel "Problemkinder" aufzudrücken. "Jedes Kind hat seine eigene Geschichte. Ein Mädchen aus dem ehemaligen Jugoslawien, das kaum noch spricht, seit es mitansehen musste, wie seine Familie vor seinen Augen erschossen wurde, braucht genauso viel Fürsorge wie ein aggressives Kind."
Keine Frage: Belusa und ihre Kollegen leisten gute Arbeit. Sollte es Zweifel gegeben haben, haben Schulinspektoren diese ausgeräumt. Im Auftrag des Berliner Senates haben sie den Unterricht gerade evaluiert - und den Kollegen dabei ein gutes Zeugnis ausgestellt. Sie bescheinigten den Mitarbeitern großes Engagement, eine gute Unterrichtsorganisation und eine ebensolche Schülerförderung und Unterstützung.

So richtig freuen konnten sich die Lehrer darüber jedoch nicht. Die Tage der kooperativen Grund- und Sonderschule sind gezählt. Die bestehenden Integrationsklassen werden zwar vorerst weiter unterrichtet. Sie laufen aber bis 2010 aus. Das zuständige Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg begründet diese Entscheidung mit sinkenden Schülerzahlen. Zählte die Schule 2004 noch 258 Schüler, so sind es heute nur noch 190. Eine Folge des demographischen Knicks, sagt Schulleiterin Annelie Belusa. Der Grundschulzweig an ihrer Schule läuft nur noch einzügig. Wie alle anderen einzügigen Grundschulen wird er auf Anweisung des Senats geschlossen. Auch die Integrationsklassen an der Prignitz-Schule fallen dem Rotstift zum Opfer. Der personelle Aufwand ist höher und kostet entsprechend mehr Geld. Ein weiteres Beispiel von angewandter Mathematik.

Nicht nur an der Prignitz-Schule, auch bei der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaften (GEW) stößt dieser Beschluss auf Unverständnis. Bei der GEW heißt es, die Entscheidung stehe sogar im Widerspruch zum neuen Berliner Schulgesetz von 2004. Danach "soll die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorrangig im gemeinsamen Unterricht erfolgen." Mit dem Gesetz will der Berliner Senat den Ausbau von Integrationsklassen an regulären Schulen forcieren.

Ein vorbildliches Anliegen, findet Sabine Dübbers, bei der GEW Berlin Referentin für den Bereich Schule, schließlich sei die Sonderschule ein Auslaufmodell - und europaweit einzigartig. In keinem anderen Land würden Kinder mit Lerndefiziten derartig ausgegrenzt. Um sie zu fördern, bedürfe es guter Pädagogen, aber keiner eigenen Schulform. Von daher sei das neue Schulgesetz ein Schritt in die richtige Richtung. Theoretisch.

Praktisch müsse der Senat allerdings auch veranlassen, dass an den regulären Grund- und Hauptschulen jetzt auch mehr qualifizierte Sonderpädagogen eingesetzt werden. Doch zumindest in der Anfangsphase klafften Wunsch und Wirklichkeit noch auseinander. Dass der Senat nicht zu finanziellen Zugeständnissen bereit sei, zeige der Fall der Prignitz-Schule .

Vor den Konsequenzen des Aus für die Integrationsklassen ist den betroffenen Lehrern jetzt schon bange. Einige von ihnen werden als so genannte "Ambulanzlehrer" mehr Zeit als bisher an verschiedenen Grundschulen verbringen, um sonderpädagogische Gutachten für verhaltensauffällige und lernbehinderte Kinder zu schreiben. Nach dem neuen Schulgesetz können die Kinder erst ab der dritten Klasse auf die Sonderschule wechseln. In den ersten beiden Jahren sollen temporäre Lerngruppen ihre Defizite abfedern - an zwei Stunden pro Woche. Viel zu wenig, kritisiert die Sonderpädagogin Hanke Kowalewski: "Die Frühförderung wird komplett verschenkt."

Erstaunliche Wandlung

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, welche Folgen das für die betroffenen Schüler hat. Beispiele von Kindern, die in den Integrationsklassen in Grundschulen eher untergingen als gefördert wurden, gibt es an der Prignitz-Schule genug. Da ist Alisa aus der Klasse 10. Als sie vor vier Jahren aus der Integrationsklasse einer benachbarten Grundschule kam, konnte die junge Bosnierin kein Wort schreiben. Die Pädagogen hatten sie als "geistig behindert" eingestuft. Dabei, sagt ihre Mutter, Azra Bajramovic, brauche ihre Tochter, ein Sechs-Monats-Kind, beim Lernen nur etwas länger. Auch könne sie nur 30 Prozent sehen.

An der Prignitz-Schule vollzog das Mädchen eine erstaunliche Verwandlung. Schon ein Jahr später kassierte sie ihre erste Eins für ein Diktat. Die Schule verlässt sie mit der Deutschnote "gut". Der Zukunft sieht Alisa entsprechend gelassen entgegen. Sie sagt: "Ich werde Geschäftsfrau. Mama richtet mir in Sarajewo einen Lebensmittelhandel ein."

(Antje Hildebrandt)

 

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